Der (gute) Anfang ist die Hälfte vom Ganzen
Heute geht es um ein Zitat von Aristoteles: „Der Anfang ist die Hälfte vom Ganzen“. Gleich vorweg: Auf meiner Webseite, in der Rubrik Weisheiten des Monats, habe ich das Zitat um das Attribut „gut“ ergänzt. Ich möchte dem Herrn Aristoteles nicht seine geistige Schöpfung entfremden, aber ich denke, dass dieses Wort die Idee dahinter noch verstärkt bzw. greifbarer verdeutlicht.
Daher beschäftige ich mich heute also mit der Formulierung: Der gute Anfang ist die Hälfte vom Ganzen.
Wer meinen Podcast kennt, weiß, dass ich gerne auf Formulierungen etwas herumreite und sie nach Herzenslust auseinandernehme, und auch dass ich gerne psychologische und neurologische Erkenntnisse mit einbaue, als Salz in der Suppe quasi, um meine Gedanken dazu sogar noch auf wissenschaftlichem Fundament aufzubauen. So auch hier.
Ich beginne aber ganz unwissenschaftlich. Wer anfängt, kann scheitern, wer nicht anfängt, ist schon gescheitert. Kennen Sie diese Aussage, in der oder vielleicht einer ähnlichen Formulierung? Es gibt so einige Zitate, die sich mit dem Thema „anfangen“ beschäftigen. Nun, auch Schiller hat gesagt: „Es ist schön zu leben, weil Leben anfangen ist.“
Oder nehmen wir es mit Hermann Hesse: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“
Was hat es also auf sich mit diesem Anfangen? Was ist anfangen? Was macht anfangen mit uns?
Nun, ich gehe mal kurz in mich und fühle genau in diesen Moment hinein. Ich sitze am Computer und schreibe den Text für diese Podcast-Folge, der ja auch in meinem Blog erscheinen wird. Vorher habe ich, während ich für mich und meine Familie eine leckere Suppe nach finnischem Rezept vorgekocht habe, mir Gedanken gemacht, welche Folge es heute sein wird. Ich habe nämlich eine kleine Liste mit Themen, die mich faszinieren, aber die Reihenfolge steht nicht fest. Die Reihenfolge ergibt sich aus meiner aktuellen Laune, meiner Kreativität, sprich: Ich entscheide mich frei nach Schnauze, womit ich mich nun beschäftigen möchte.
Wenn Sie diese Folge hören oder lesen – dann ist sie fertig. Aber jetzt im Moment schreibe ich ja noch. Was ist nun der Anfang? Befinde ich mich jetzt gerade beim Anfang? Oder war der Anfang die Entscheidung für dieses Thema, also ca. eine halbe Stunde früher? Oder war der Anfang das Notieren des Themas in meine kleine Liste? Oder liegt der Anfang gar noch länger zurück, in der Zeit, als ich mich grundsätzlich entschied, überhaupt einen Podcast zu veröffentlichen? Diese Frage lasse ich offen, denn ich kann jeden dieser Moment als Anfang oder neuen Anfang definieren und dann den Zauber darin erkennen.
Was haben Sie angefangen? Oder was möchten Sie bald anfangen? Spüren Sie da einen inneren Antrieb? Eine Vorfreude?
Nun, wenn ich nicht anfange, werde ich nicht fertig. Das klingt irgendwie logisch. Also wenn ich das Ganze haben möchte, ein Ergebnis meiner Arbeit, eine fertige Sache, dann muss ich anfangen. Das lernen Kinder bereits sehr früh. Auch wenn diese Erkenntnis später dann ein wenig an Bedeutung verlieren kann, wenn es um die Erledigung unliebsamer Hausaufgaben für die Schule geht. Aber nehmen wir mal die Kinder in den Schutz – gibt es für uns alle nicht auch Aufgaben, die wir gerne vor uns herschieben, bis an die Grenze dessen, was wir Prokastination nennen? Ich lasse diese überflüssige Frage mit einem kleinen Schmunzeln einfach mal offen.
Der gute Anfang ist die Hälfte vom Ganzen. Was bedeutet das nun? Oder vielmehr: Was bedeutet es für mich? Denn die Wahrheit, die ich in diesem Spruch erkenne, muss nicht die sein, die Sie erkennen. Sie erinnern sich an die Folge 12 „Wirklichkeit ist eine Konstruktion“? Wenn nicht, hören Sie doch mal rein.
Der gute Anfang ist die Hälfte vom Ganzen. Natürlich geht es hier nicht um Mathematik. Ob es nun die Hälfte ist oder mehr oder weniger, ist unerheblich. Aber ich behaupte: Der gute Anfang hat enormen Einfluss auf den Verlauf dessen, was ich angefangen habe.
Und das ist sogar wissenschaftlich begründbar. Nähern wir uns also dem interessanten Kern dieser Aussage.
Gehen Sie mal kurz in sich und finden Sie eine Aufgabe, die Sie noch vor sich haben. Wenn Ihnen spontan nichts einfällt, dann denken Sie an eine Aufgabe, die Sie bereits erledigt haben. Besser wäre aber eine Aufgabe, die Sie noch vor sich haben, denn für diese können Sie vielleicht die Erkenntnisse, um die es hier geht, förderlich einsetzen.
Haben Sie schon mal das eine oder andere Seminar besucht? Irgendeine Fortbildung? Vielleicht im Bereich Kommunikation, Persönlichkeitsentwicklung oder für Ihre beruflich-fachlichen Bereich?
Heutzutage ist es üblich, dass gute Seminare oder Workshops mit motivierenden bzw. aktivierenden Momenten anfangen. Mitunter wird hier gerne mal übertrieben, und die Methoden, Übungen, etc. kommen etwas unbeholfen daher und bewirken in den Teilnehmern eher Reaktanz, also den inneren Widerstand gegen (zumindest so wahrgenommenen) Beeinflussungsdruck. Dann geht die Nummer nach hinten los. Aber wenn der Dozent oder die Dozentin ein Gespür für die Gruppe und den Moment hat, dann ist es eine äußerst förderliche Sache, den Tag nicht gleich mit Input zu beginnen, sondern die Menschen emotional und kognitiv hochzufahren und eine positive Grundstimmung zu erzeugen. Das klingt irgendwie logisch, auch wenn es hier keiner wissenschaftlichen Erklärung braucht. Aber warum ist das so? Was passiert da eigentlich?
Unser Gehirn ist einfach mal ein wirklich spannendes Organ. Alle Reize, die uns erreichen (also Signale, was hier hören, sehen, fühlen, etc.) laufen erst einmal durch einen Filter. Das limbische System nimmt Reize auf, gleicht sie mit gespeicherten Mustern ab, ordnet diese Reize dann einem Schema oder einer Erfahrung zu und bewertet sie anschließend als gefährlich oder ungefährlich, interessant oder uninteressant, relevant oder irrelevant, etc. Das alles läuft unbewusst und innerhalb von Millisekunden ab. Wir können das also nicht steuern, nicht einmal den Prozess bewusst wahrnehmen. Was wir jedoch bewusst wahrnehmen können, sind die Emotionen und Reaktionen, die daraus generiert werden.
Wenn ich etwas erlebe und mich dabei gut fühle, so werde ich das wahrnehmen. Das interessante: Dieses gute Gefühl kann andauern, auch wenn die auslösenden Reize ausbleiben. Interessant wird es, wenn diese Reize mit anderen, darauf folgenden Reizen verknüpft werden.
Bevor es jetzt zu theoretisch wird, ist es Zeit für ein Beispiel:
Sie sehen eine Werbeanzeige mit einem wunderschönen Bild. Ein Bild, dass Sie sofort anspricht. Beim Betrachten dieses Bildes geht es Ihnen einfach nur gut.
Das Bild wird sofort erfasst von Ihrem Gehirn. Der Slogan (also die Werbebotschaft) braucht etwas länger. Während Ihr Gehirn also die Werbebotschaft (bestehend aus geschriebenem Text) erst dekodieren und daraus Gedanken generieren muss, ist die emotionale Reaktion auf das Bild bereits vorhanden. Die Reaktion auf den Text wird nun also mit den Emotionen verknüpft, die eine Reaktion auf das Bild darstellen. Hier haben also zwei Prozesse nacheinander stattgefunden, auch wenn es sich nur um Millisekunden handelt. Der erste Prozess, die Aufnahme des optischen Reizes durch das Bild und die emotionale Reaktion darauf, findet VOR dem zweiten Prozess statt, nämlich dem Dekodieren der Textbotschaft. Und da diese beiden Reize miteinander verknüpft sind (das Bild und der Text), beeinflusst das Bild die Aufnahme des Textes.
Klingt etwas theoretisch? Bleiben Sie beim nächsten Werbeplakat mal stehen oder schauen Sie sich einen Werbespot im Fernsehen mal ganz genau an. Sie werden bei kritischer und achtsamer Betrachtung genau diesen Effekt wiedererkennen.
Das Phänomen, von dem ich hier spreche, wird „Priming“ genannt. Übersetzt heißt das so viel wie Anbahnung.
Priming kann beschrieben werden als die Anbahnung eines Reiz-Reaktions-Schemas. Ein Hinweisreiz ruft im Gehirn ein gespeichertes Reaktions-Schema ab und begünstigt im Anschluss die Aufnahme eines Zielreizes.
Ganz einfach formuliert. Priming stimmt ein. Es gibt natürlich nicht nur positives, sondern auch negatives Priming.
Im Übrigen findet bereits durch das Titelbild dieses Blog-Artikels ein Priming statt. Was bewirkt dieses Bild in Ihnen? Wie würden Sie wohl diesen gesamten Text hier aufnehmen, wenn ich Ihnen ein Bild vorangeschickt hätte, das Verwahrlosung, Verzweiflung, Scheitern oder Tod gezeigt hätte...?
Wenn ich Ihnen sage: „Bei dieser Aufgabe werden Sie genau so scheitern wie damals, als Sie…“, dann ruft meine Aussage in Ihrem Gehirn eine mit einer Aufgabenerfüllung verknüpfte negative Erinnerung ab, verknüpft sie mit der anstehenden Aufgabe, und die Reize, die Sie nun im Anschluss aufnehmen, werden Ihre eigene Leistungsfähigkeit mindern.
Natürlich tritt dieser Effekt nicht in allen Situationen gleich stark auf, auch sind nicht alle Menschen gleich anfällig beispielsweise für solche demotivierende Aussagen. Anders herum wirkt auch nicht jede motivierende Einstimmung bei allen Menschen mit dem gewünschten Effekt, beispielsweise, wenn eine innere Stimme oder ein Lebensthema, also ein eigenes Dogma einer von außen kommenden motivierenden Aussage widerspricht.
Bei aller Individualität – der Effekt des Priming ist hinreichend wissenschaftlich erforscht und es gibt zahllose Abhandlungen darüber.
Zurück zum Zitat: Der gute Anfang ist die Hälfte vom Ganzen.
Wenn Sie eine Aufgabe vor sich haben, die Ihnen einiges an Kraft, Ausdauer, Kreativität oder Ähnliches abverlangt, oder zu der Sie sich erst motivieren müssen, dann kann es hilfreich sein, sich positiv einzustimmen.
Denken Sie an ein Erfolgserlebnis, das Sie im Leben bei einer ähnlichen Aufgabe bereits hatten, und spüren Sie in sich hinein, welch positive Emotionen Sie in sich wahrnehmen. Denken Sie nun an die anstehende Aufgabe und öffnen Sie sich der Vermutung, dass Sie auch diese Aufgabe bestens meistern können.
Was sich zugegeben ein wenig wie ein plumper Motivationstrick anhört, funktioniert aber. Wenn die Erinnerung echt ist, und die mit ihr verknüpften Emotionen intensiv und positiv, dann funktioniert dieser Effekt des Priming.
Sie können sich aber auch primen, ohne eine bestimmte Erinnerung abrufen zu müssen: Gönnen Sie sich etwas wirklich Gutes, einen Glücksmoment, den Sie selbst bestimmen (eine Tasse guten Tees, ein bestimmtes Lied, das Sie sich auf die Ohren geben, ein inneres Bild bei geschlossenen Augen, was auch immer Ihnen einfällt, und was auch immer Sie richtig glücklich macht), und bestimmen Sie diesen Moment als Anfang. Stimmen Sie sich mit den positiven Gefühlen, die daraus entstehen ein, und nehmen Sie diese mit in Ihre Aufgabenerfüllung. Sie werden spüren, dass Sie motivierter sind.
Oder noch einfacher formuliert: Tun Sie etwas, damit Sie gut gelaunt starten können.
Dass hier im Hintergrund ein Priming abläuft, ist ja eigentlich unwichtig. Hauptsache, es funktioniert.
Der gute Anfang ist die Hälfte vom Ganzen!
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen von Herzen gutes Gelingen!
An dieser Stelle erlaube ich mir übrigens eine Anmerkung: Es gibt ja Bewegungen und Bestrebungen, die Schule zu einem besseren Ort zu machen. Nun, was ich beobachte ist, dass in der Schule immer noch zu wenige Erkenntnisse der Hirnforschung, hier der Neurodidaktik umgesetzt werden. Business as usual. Es wird frontal gelehrt, die Rahmenpläne werden abgearbeitet, mit Tests und Klausuren wird der Effekt auf das Kurzzeitgedächtnis geprüft, dann geht es weiter zum nächsten Thema.
Nachhaltiges Lernen sieht anders aus!
Wie oft kommt es vor, dass ein Kind nach Hause kommt und sagt: „Boah, heute war unser Lehrer aber motiviert. Der war richtig begeistert vom Thema, hat uns darauf eingestimmt, und diese positive Stimmung hat sich auf die meisten von uns voll übertragen. Wir waren richtig motiviert und werden diese Stunde heute nie vergessen…“
Es ist traurig, dass in der Erwachsenenbildung immer mehr Erkenntnisse der Hirnforschung im Sinne des besseren Transfers und des Lernerfolges umgesetzt und immer weiter optimiert werden, aber in der Schule der Unterricht überwiegend langweilig und dröge einem Schema folgt, das sich seit Jahrzehnten kaum geändert hat.