Das Leben der Anderen ist viel besser als meins - oder: Was sind Attributionsfehler?
Begriffsklärung Attribut und Atrribution
Heute möchte ich mich mit einem Phänomen beschäftigen, das sie wahrscheinlich kennen. Damit meine ich nicht seine Bezeichnung, denn ich rede von so genannten Attributionsfehlern. Es kann sein, dass Ihnen dieser zugegeben etwas sperrige Begriff vielleicht noch nicht bekannt war – bisher. Aber das Phänomen an sich werden Sie kennen. Da bin ich mir sicher. Das weiß ich. Zumindest kennen Sie es unbewusst, denn es ereilt jeden von uns. Ob wir wollen oder nicht.
Zunächst eine Begriffsklärung:
Ein Attribut ist grammatisch betrachtet, eine Beifügung. In der Psychologie versteht man unter Attribution die Zuschreibung von Eigenschaften (auch Fähigkeiten, Bewertungen, etc.). Ein sehr einfaches Beispiel: Ein rotes Haus. Das Haus hat die Eigenschaft, rot zu sein. So weit so simpel.
Interessant wird es, wenn ich einer Person eine Eigenschaft zuschreibe, wie beispielsweise der liebevolle Vater oder die erfolgreiche Geschäftsfrau.
Ein Beispiel: Ich sehe auf der Straße einen Tiger frei herumlaufen. Erst einmal sind es nur optische Reize, die mein Auge an mein Gehirn weiterleitet. Große Katze, gestreiftes Fell, dicke Tatzen, eigentlich ganz süß. Unser limbisches System greift jedoch auf bekannte Muster zurück, vergleicht und bewertet. Das Resultat dürfte niemanden überraschen, das Attribut lautet "gefährlich", die Emotion ist Angst. All das geschieht bereits im Unterbewusstsein. Dazu gleich mehr.
Worum geht es nun heute also?
Im Titel heißt es ja: Das Leben der Anderen ist viel besser als meins…
Es ist ein bekanntes und umfassend durch wissenschaftliche Forschungen beschriebenes Phänomen, dass Menschen gerne auf das Leben der Anderen schauen. Woher kommt das? Nun, wir sind ein Resultat der Evolution. Wir haben unsere Verhaltensmuster von unseren Urahnen geerbt. Das Sich-Beschäftigen mit dem Leben der Anderen bietet die Möglichkeit, zu vergleichen, von Anderen zu lernen, Bewährtes zu übernehmen oder dieses und jenes vielleicht besser zu machen. Das alles ist per se erst einmal sehr gut und wie gesagt eh natürlich. Wenn ich mich mit der Evolution beschäftige, bin ich aber gedanklich wirklich sehr weit in der Vergangenheit, in der unsere Vorfahren in kleinen Sippen oder zumindest (verglichen mit der heutigen Zeit) in sehr überschaubaren Siedlungen gewohnt haben.
Interessant wird es nämlich dann, wenn vererbte, sehr alte Verhaltensmuster in der heutigen Zeit noch Wirkung zeigen, denn heute sieht die Welt doch durchaus anders aus als noch vor beispielsweise 500.000 Jahren…
Heute schauen wir Menschen nicht auf das Leben von einigen wenigen Anderen, sondern auf das von Tausenden oder Millionen, potenziell von Milliarden. Schon vor der Zeit der massiven Verbreitung von Social Media blühte die Regenbogen-Presse, weil es für nicht wenige Menschen äußerst spannend war, sich beispielsweise mit dem Leben von Prominenten oder dem von Mitgliedern irgendwelcher Königsfamilien zu beschäftigen.
Und heute? Via Social Media prasseln in einem nicht mehr bezifferbaren Ausmaß Eindrücke aus dem Leben von Menschen auf uns ein, die quer über den ganzen Globus verteilt sind. Fremde Menschen. Es interessiert viele gar nicht mehr, WER etwas gepostet hat. Hauptsache spannend, Hauptsache hip.
Viele Erwachsene, aber vor allem Jugendliche verbringen einen Großteil ihrer Zeit auf Social Media Plattformen. Und hier geschieht unter Anderem etwas sehr Spannendes.
Es ist ein bekanntes Phänomen, dass Menschen sich und ihre Erlebnisse in der digitalen Welt übertrieben positiv darstellen.
Die Menschen teilen gerne ihre tollsten Momente. Es ist der Urlaub am Meer, das neue Auto, ein toller Restaurant-Besuch, ein total entspannter Spaziergang am See mit dem Hund, die bestandene Prüfung, etc. - eben alles, was große Freude bereitet und unbedingt mit Freunden oder am besten der ganzen Welt geteilt werden muss. Die gewöhnlichen, langweiligen oder doofen Momente werden in der Regel nicht gepostet.
Es gibt also eine ziemliche Diskrepanz gibt zwischen dem wirklichen, realen Ich und dem „digitalen“ Ich, das sich nach außen zeigt, und das ist ein großes Problem.
Stellen Sie sich vor, Sie sind täglich im Netz unterwegs und sehen sich viele Beiträge von vielen Menschen an. Immer wieder. Da diese (wie bereits erwähnt und durch wissenschaftliche Studien eindeutig nachgewiesen) überwiegend verzerrt positiv ausfallen, geht dieses verzerrte Gesamtbild also auch in Ihr Gehirn. Und zwar erst einmal direkt in Ihr limbisches System. Dieser Teil des Gehirns stellt maßgeblich das Unterbewusstsein dar und ist also dem Bewusstsein vorgeschaltet. Das limbische System hat die Aufgabe, Sinneswahrnehmungen zu kategorisieren, mit bekannten Mustern zu vergleichen, schließlich zu bewerten und innerhalb von Millisekunden Emotionen oder ggf. blitzschnelle körperliche Reaktionen auszulösen. Wenn beispielsweise Angriff oder Flucht die beste Reaktion auf eine Situation wäre. Bis wir nämlich den eventuellen Angriff des oben erwähnten frei auf der Straße herumlaufenden Tigers bewusst analysiert und die beste Handlungsstrategie durch Abwägung verschiedener Optionen mittels unseres Verstandes erörtert hätten, nun, da wäre der Tiger wahrscheinlich mit seiner Entscheidung etwas schneller…
Kurz gesagt: Das limbische System bewertet unsere Wahrnehmungen. Und vergleicht diese mit bekannten Mustern. Wenn ich also (wie oben bereits erwähnt) ein verzerrt positives Bild von der Masse an Menschen da draußen in mein limbisches System schicke, nur die coolen Stories, die tollen Momente, die glorreichen, witzigen, imposanten Bilder, Videos und Infos, das pure Glück und hochspannende und beeindruckende Details aus dem Leben so vieler Menschen – was wird dabei herauskommen?
Nun, das gewöhnliche, echte Leben ist definitiv nicht permanent cool, toll, glorreich, witzig, imposant, glücklich, hochspannend und beeindruckend, sondern oft auch mal langweilig, unbedeutend, nicht der Rede wert oder auch mal blöd oder richtig scheiße.
Das limbische System weiß das, denn es speichert ja die Erfahrungen aus unserem eigenen Leben. Nun wird aber das verzerrt positive Bild von außen mit dem realen, gewöhnlichen Bild von innen verglichen. Und hier kann es nur zu dem Ergebnis kommen, dass das Leben der Anderen ein besseres Attribut erhält als das eigene. Und genau diesen Effekt nennt man in der Neurologie oder Psychologie Attributionsfehler.
Attributionsfehler sind aus zwei Blickwinkeln sehr interessant bzw. gravierend.
Erstens geschieht dieser Fehler (wie auch andere Wahrnehmungsverzerrungen) im Unterbewusstsein. Nun wissen wir ja, dass das Unterbewusstsein dem Bewusstsein vorgeschaltet ist. Das reine Wissen, dass es beispielsweise so etwas wie Attributionsfehler gibt, wird nun aber im bewussten Teil des Gehirns abgelegt, das dem Unterbewusstsein nachgeschaltet ist. Praktisch bedeutet das, das uns dieses Wissen herzlich wenig nützt. Denn die Wahrnehmungsverzerrung geschieht in dem Moment, in dem die Wahrnehmung stattfindet, bereits im Unterbewusstsein, also bevor sie mir bewusst wird. Damit ist es also für das erworbene Wissen zu spät, etwas daran zu ändern. Wir können Wahrnehmungsverzerrungen also nur im Nachgang bewusst reflektieren. Verhindern können wir sie nicht.
Zweitens löst solch eine Verzerrung Reaktionen aus. Im Sinne des heutigen Themas sehr negative. Durch Studien belegt ist mittlerweile, dass (besonders bei Jugendlichen) die Depressionsrate in einem signifikanten Zusammenhang steht mit der Dauer und Häufigkeit des Social-Media-Konsums. Dies wird unter Anderem den hier behandelten Attributionsfehlern zugeschrieben.
Eine technische Anmerkung: Social Media Plattformen verwenden bestimmte Algorithmen, die Inhalte für uns auswählen, und zwar aufgrund der permanenten Auswertung unseres Nutzerverhaltens. Das ist hinlänglich bekannt, und je mehr ich mich für diese tollen Darstellungen der Anderen interessiere, desto mehr bekomme ich auch genau davon angezeigt. Hier wird dieser Effekt also bereits durch die Social Media Plattform selbst verstärkt. Auch ein Phänomen, dessen man sich bewusst sein sollte.
Was können wir also tun?
Mein Slogan lautet ja: Mach Dir bewusst, was unbewusst in Dir geschieht. Wie gesagt, wie können nur durch Wissen keine Wahrnehmungsverzerrungen verhindern. Wir können aber steuern, welche Reize wir unserem limbischen System anbieten.
Eine einfache Methode ist – um beim heutigen Thema zu bleiben: Schauen Sie nicht so viel auf das Leben der Anderen. Blenden Sie das doch einfach mal aus. Oder reduzieren Sie die Flut an Bildern. Eine Anmerkung: Gerade Jugendlichen sollte man das beispielsweise auch mal (natürlich altersgerecht) erklären. Für jüngere Kinder jedoch ist dieses Thema schwer zu erfassen, denn ihnen fehlt altersbedingt die Fähigkeit zu abstrahieren und den Blickwinkel des Unterbewusstseins einzunehmen. Hier sind also durchaus auch Verbote das Mittel der Wahl. Ich weiß, diese Option ist nicht allzu beliebt, aber ich kann Ihnen noch weitere Gründe aufzählen, warum ein übermäßiger und vor allem unkontrollierter und unbegleiteter Social Media-Konsum Kindern nachweislich schadet. Dazu aber an anderer Stelle mehr.
Machen Sie sich bewusst, was unbewusst in Ihnen geschieht. Und dann treffen Sie Ihre Entscheidungen, was Sie sich so alles reinziehen…
Ein kurzer Erklär-Film zu Attributionsfehlern:
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