Kinder und Medienkompetenz
Was hat Autofahren mit digitalen Medien zu tun?
Kann jemand, der weiß wie Kupplung, Gas und Bremse funktionieren, Auto fahren? Nein. Die Funktionsweise der Mechanik beim Auto zu kennen oder gar bedienen zu können, bedeutet noch lange nicht, wirklich Auto fahren zu können. Jeder, der einen Führerschein hat, erinnert sich vielleicht an diese enorme Anspannung während der ersten Fahrstunden. Wo kam die her? Sicher nicht, weil das Auto so schwer zu bedienen war. Wir konnten anfahren, bremsen, einigermaßen schalten und lenken. Der Fahrlehrer saß zudem noch neben uns. Woher kam also diese Anspannung.
Natürlich hat uns die Bedienung des Fahrzeugs einiges an Aufmerksamkeit abverlangt. Maßgeblich für unseren Stress war aber überwiegend die Flut an Informationen, die auf uns einprasselte, und die wir filtern und bewerten mussten, um unser Handeln danach auszurichten. Das Blickfeld vorne, die Rücksicht über die Spiegel, das periphäre Umfeld, die Geräusche - und überall waren Menschen, Fußgänger, Radfahrer, Autos, Verkehrsschilder, Ampeln, etc. Diese Flut an Informationen können wir beim Autofahren nicht steuern. Sie trifft auf uns ein. Was wir jedoch können, ist, den Umgang damit zu schulen. Und genau das befähigt uns am Ende erst, Auto zu fahren.
In der Fahrschule lernen wir übrigens auch, Bremswege zu berechnen. Was macht die momentane Geschwindigkeit mit uns? Wie reagiere ich oder das Fahrzeug, wenn hinter der Kurve ein Baumstamm auf der Straße liegt? Hier fängt es an, interessant zu werden, denn hier geht es um Wirkweisen!
Genauso ist es beim Umgang mit "digitalen Medien"...
Bedienkompetenz vs. Medienkompetenz
Am Beispiel des Autofahrens wollte ich einen sehr elementaren, aber oft ausgeblendeten Unterschied aufzeigen. Die reine Bedienkompetenz bedeutet noch keine Medienkompetenz! Ich möchte mal das Beispiel des Autofahrens auf die Welt der Smartphones und der Social-Media-Welten übertragen und mit einigen Missverständnissen aufräumen...
Kinder können intuitiv gut mit Smartphones umgehen?
Nein, können sie nicht. Was sie in der Tat gut und schnell lernen, ist:
- Geräte ein- und ausschalten
- ggf. einen Entsperr-Code eingeben
- Apps aufrufen
- Fotos oder Videos aufnehmen bzw. abrufen
- Musik hören
- Andere Apps grundlegend bedienen
- Spiele spielen
- Social-Media-Kanäle öffnen, Beiträge posten
- etc.
Die hier aufgezählten Punkte beschreiben tatsächlich nur die reine Bedienkompetenz. Beim Autofahren wäre dies also Gas geben, kuppeln, schalten, bremsen, blinken, Licht oder Scheibenwischer ein- und ausschalten, etc. Was hier noch völlig außer Acht gelassen wird, ist die Frage nach der Wahrnehmung, den eigenen Filtern, der eigenen Reaktion auf äußere Reize - also auf die Frage, wie eine Situation auf einen wirkt und wie jemand mit ihr umgeht.
Wahre Medienkompetenz beinhaltet viel mehr
Nachdem wir grundlegend die Begriffe Medienkompetenz und reine Bedienkompetenz etwas abgegrenzt haben, möchte ich hier etwas ins Detail gehen. Diese beiden Begriffe stehen sich natürlich nicht als Widerspruch gegenüber. Bedienkompetenz ist durchaus ein Teil von Medienkompetenz. Aber eben nur ein Teil... Zur wahren Medienkompetenz gehören ganz grundlegende Fähigkeiten wie beispielsweise:
- Filtern von Informationen (nach Relevanz, Objektivität, Validität, Reliabilität etc.)
- Recherche und Bewertung von Quellen
- Erkennen von Manipulation
- Erkennen und Verstehen politischer und wirtschaftlicher Interessen
- Wahrnehmung eigener physischer, kognitiver und emotionaler Reaktionen
- Steuerung des Konsumverhaltens
- Unterscheidung von Realität und Fiktion (im Fernsehen, in Social Media Beiträgen, etc.)
- etc.
Diese Liste ist lange nicht vollständig, sie soll nur die Richtung aufzeigen, in die wir denken müssen, wenn wir von wahrer Medienkompetenz sprechen. Ich möchte ein sehr interessantes Beispiel herauspicken, um emotionele Reaktionen zu verdeutlichen:
Beispiel: Was sind Attributionsfehler?
Einen ausführlichen Artikel zu Attributionsfehlern finden Sie HIER. In Kürze: In der Social Media-Welt wird natürlich viel gemeckert. Das Negative verbreitet sich schnell.
Viel verbreiteter jedoch, ja überwiegend, ist eine sehr positiv verschobene Selbstdarstellung der Menschen zu verzeichnen. Jeder will gut dastehen, jeder will glänzen. Was die Menschen von sich posten, sind fast ausschließlich großartige Momente, Erfreuliches, tolle Bilder, etc. All diese Informationen gehen direkt erst einmal in unser limbisches System, das sozusagen der Türsteher unserer Wahrnehmung ist. Hier wird gefiltert, mit eigenen Erfahrungen abgeglichen und kategorisiert und bewertet. Das läuft automatisch innerhalb von Millisekunden ab. Wir können dies nicht steuern.
Was findet unser limbisches System heraus? Nun, das eigene Leben ist (wie jedes andere auch) ganz gewöhnlich. Mit langweiligen oder gar doofen Tagen. Das ist für uns normal, das weiß unser Gehirn. Das Leben der Anderen erscheint aber (aufgrund der verschoben positiven Selbstdarstellung) großartig. Folglich muss doch mein Leben schlechter als das der Anderen sein. Sie finden das übertrieben? Ist es nicht. Es ist exakt das, was in uns unbewusst abläuft. Die Neurologie liefert die Erklärungen, Studien belegen die Richtigkeit, denn die Menschen selbst (auch Jugendliche) bestätigen in Umfragen diesen Effekt.
Eine erhöhte Depressionsrate bei uns und in den USA sogar eine erhöhte Suizidrate, die mit einem hohen Social-Media-Konsum korreliert, sprechen eine entsprechend deutliche Sprache...
Dopamin und Suchtgefahr
Es ist mittlerweile eine gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis, dass die Beschäftigung mit dem Handy und mit Social Media Plattformen den Botenstoff Dopamin ausschüttet. Deswegen fühlt es sich auch so toll an. Dopamin ist exakt der gleiche Stoff, der beim Rauchen, Alkohol- oder Drogenkonsum bzw. beim Spielen (auch Zocken) ausgeschüttet wird. Damit sind wir mitten im Thema Suchtgefahr.
Die Buindeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) hat in ihrem jährlichen Bericht über die Drogenaffinität Jugendlicher in der Bundesrepublik Deutschland einen eigenen Teilband "Computerspiele und Internet" aufgenommen.
Ständige Erreichbarkeit - Stress pur
Wir können wahrnehmen, dass sich immer mehr Menschen (vor allem Jugendliche) absolut abhängig machen von ihrem Smartphone. Ständig in Griffnähe, wird bei jedem Bing sofort danach gegriffen. Selbst im Vorbeigehen wird gecheckt, ob es neue Nachrichten gibt. Das ist ein sehr problematisches Verhalten, sind es doch klassische Suchtmerkmale.
Schlimm daran ist, dass Kreativität, Selbstfindung, Reflexion, Verarbeitung von Erlebnissen und Erlerntem, etc. von der Fähigkeit abhängig sind, innerlich zur Ruhe zu kommen. Diese innere Ruhe wird jedoch verhindert durch die ständige innere Erwartung, dass das Handy klingeln könnte. Die permanente Aufmerksamkeitsfokussierung auf das Handy stellt ein immenses Problem für die Persönlichkeitsentwicklung und Selbstfindung dar.
Stressbewältigungsstrategien?
Es ist ein integraler Bestandteil der persönlichen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, dass sie Stressbewältigungsstrategien erlernen. Tatsächlich ist zu verzeichnen, dass sich immer mehr Kinder und Jugendliche beim Aufkommen der kleinsten Frage nicht mehr an einen Menschen wenden, sondern an das Handy. Damit verfestigen sich die erlernten Strategien im Gehirn, und es wird mit sehr großer Wahrscheinlichkeit den Menschen im späteren Leben schwer fallen, mit Stress und ungewohnten Situationen klarzukommen. Erste deutliche Hinweise darauf gibt es bereits heute.
Beobachtbare Folgen eines hohen Medienkonsums
Dies waren nun krasse Beispiele für wahre Gefahren, die mit der Nutzung von Smartphones und Social Media einhergehen können. Und natürlich ist nicht jeder, der viel digitale Welt konsumiert, gleich massiv gefährdet. Ein stabiles und liebevolles Umfeld, eine intakte und fürsorgliche Familie, erfüllende Hobbys, etc. - all das ist wichtig und schützt bereits Kinder vor solchen negativen Entwicklungen.
Festzuhalten ist jedoch, dass intensiver Medienkonsum oft als Ursache für folgende Phänomene erscheint:
- Konzentrationsschwierigkeiten
- Überforderung im Allgemeinen
- Absacken schulischer Leistungen
- Anfälligkeit für Fake-News
- Reinfall auf "skripted-reality-Sendungen" im Fernsehen.
- Gereiztheit
- Erhöhtes Aggressionspotenzial
- Seelische Probleme bis zur schweren Depression
- Mobbing
- Suizidgedanken
- etc.
Auch diese Liste ist nicht vollständig, sondern soll nur sensibilieren.
Kinder sollten möglichst früh an digitale Medien herangeführt werden...?
Dieser Satz ist grundlegend falsch! Kinder durchlaufen bestimmte Entwicklungsstadien, die wiederum Grundlage für bestimmte Fähigkeiten sind. Beispielsweise kann ein Kind im Kita-Alter ggf. noch keinen Perspektivwechsel kognitiv vollbringen, also eine Sache aus der Perspektive eines Anderen betrachten. Das Gehirn hat diese Fähigkeit vielleicht noch nicht entwickelt. Ebenso kann ein Kind (auch in höherem Alter) sich noch nicht von der eigenen Wahrnehmung dissoziieren, also sich selbst, inklusive seiner Wahrnehmung, von außen betrachten. Dass es also absolut schädlich sein muss, Kinder Ballerspiele spielen zu lassen, dürfte damit bereits erklärt sein.
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