Wirklichkeit ist eine Konstruktion
Heute geht es um das Thema: „Wirklichkeit ist eine Konstruktion“
Was ist damit gemeint? Nun, ich gehe wieder einmal zuerst in eine Begriffsklärung Wir haben es hier ja mit zwei zentralen Begriffen zu tun, nämlich „Wirklichkeit“ und „Konstruktion“.
In der Folge 5 meines Podcasts habe ich mich mit der Aussage beschäftigt „Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Wirklichkeit.“ In jener Folge habe ich den Begriff Wirklichkeit definiert als die äußere Realität. Greifbare, beobachtbare und objektiv nachweisbare Dinge. Also Gegenstände, die uns umgeben, Erlebnisse, Geschehnisse. Aber auch Emotionen (als Teil der inneren Welt) können Wirklichkeit sein. An dieser Stelle möchte ich den Begriff der Wirklichkeit ergänzen. Zu den Emotionen als Teil der inneren Welt gehören auch Glaubenssätze, Prägungen, Filter etc.
Haben Sie schon mal etwas von den inneren Landkarten gehört – oder vom Modell der Welt? Beides meint das Gleiche, und sowohl im Coaching als auch in der Psychologie arbeitet man seit Jahrzehnten weit verbreitet mit den Annahmen dieser Modelle.
Fangen wir mit einem Bild an. Vielleicht kennen Sie es. Sie sehen eine Zeichnung, auf der sich zwei Menschen gegenüberstehen. Wir sehen diese Beiden Menschen von der Seite, aus einem erhöhten Blickwinkel, so dass wir den Boden zwischen ihnen gut erkennen können. Auf diesem Boden ist eine Zahl zu lesen. Sie liegt dort oder ist auf den Boden gemalt, das spielt keine Rolle. Die Zahl ist so angeordnet, dass sie dem einen Menschen, den wir auf der Zeichnung sehen, als 6 erscheint. Da sich beide genau gegenüber stehen, erkennt der andere in der Zahl demnach eine 9. Beide sprechen ihre Wahrnehmung jeweils in einer Sprechblase aus. Der eine sagt „6“, der andere sagt „9“. Können Sie sich das Bild vorstellen? Was ist das Kuriose an dem Bild? Nach einem ersten Schmunzeln und Kopfnicken erkennen wir: Beide haben recht! Beide haben recht, aus Ihrem jeweiligen Blickwinkel heraus. Und schon stellt sich die Frage: Was ist denn nun die Wirklichkeit? Hier wird es bereits schwierig. Und darum mag ich dieses Bild so sehr.
Nun geht es aber gar nicht nur um eine Zahl, die um 180 Grad gedreht eine andere Zahl ergibt. Es geht um sehr viel mehr.
Versuchen Sie doch mal, die Farbe grün zu beschreiben. Sie dürfen dabei aber keine Zuordnungen von Dingen verwenden, die grün sind. Beispielsweise dürfen Sie nicht auf Gras oder Pflanzen allgemein verweisen, oder andere Dinge, die in der Regel grün sind. Beschreiben Sie also, ohne Beispiele zu nennen, die Farbe Grün. Sie werden erkennen, dass es Ihnen nicht gelingen wird. Ebenso können Sie einen Geruch nicht exakt beschreiben. Worte wie „schwer“ oder „würzig“ oder ähnliche reichen schlichtweg nicht aus, um Anderen genau klar zu machen, wie Sie einen bestimmten Geruch oder Duft wahrnehmen. Es geht schlichtweg nicht.
Übrigens stelle ich mir auch bei Farben gerne die Frage: Wenn Sie und ich beide auf die gleiche Blume schauen – nehmen wir die gleiche Farbe wahr? Sehen wir genau das Gleiche? Rein wissenschaftlich betrachtet erreichen elektromagnetische Strahlen mit einer bestimmten Wellenlänge unsere Augen. Bis dahin rezipieren wir also die gleichen Signale. Dann beginnt jedoch die Reizweiterleitung ans Gehirn, und dort wird gefiltert, bewertet, interpretiert. Das sind alles Ergebnisse neurobiologischer Prozesse in den Synapsen. Was dabei herauskommt, dürfte einigermaßen subjektiv sein.
Übrigens finde ich die streng wissenschaftliche Aussage interessant, dass es gar keine Farben gibt. Es gibt lediglich Oberflächen mit bestimmten Eigenschaften, die einfallendes Licht reflektieren und dabei die Wellenlänge der Lichtstrahlen verändern. Es gibt also nur Wellenlängen. Farben sind eine Interpretation und damit eine Konstruktion im Gehirn…
Aber ich möchte nicht zu sehr abschweifen und kehre zum Modell der Welt bzw. den inneren Landkarten zurück.
Stellen Sie sich vor, Ihnen begegnet ein Mensch. Sie haben diesen Menschen noch nie gesehen. Es ist ein sehr dominant und arrogant wirkender Mensch. Stellen Sie sich nun die Größe dieses Menschen vor, die Statur, die Haarfarbe, die Gesichtszüge, den Blick, eventuell die Kleidung, die Körpersprache, die Stimme. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit dafür.
Fällt Ihnen etwas auf? Fällt Ihnen auf, dass diese Person Gestalt angenommen hat, und Sie sie ziemlich detailliert in Ihrer inneren Vorstellung sehen und sogar sprechen hören können?
Was meinen Sie, wie diese Person in Ihrer inneren Vorstellung entstanden ist? Durch meine Worte nämlich garantiert nicht, denn ich habe bewusst nur die Worte „dominant“ und „arrogant“ verwendet. Dies sind Zuschreibungen von Eigenschaften, also Bewertungen. Es sind keine Beschreibungen der äußerlich erkennbaren Erscheinung dieser Person. Wie kann es also sein, dass Sie nun ein klares Bild von dieser Person haben, obwohl ich hierzu keine Vorgaben gemacht habe? Wo kommt diese Konstruktion her?
Was meinen Sie? Wenn ich einem anderen Menschen die gleiche gedankliche Aufgabe stelle – wird das Resultat die gleiche fiktive Person sein? Garantiert nicht.
Es ist wohl sehr wahrscheinlich, dass diese Person, die Sie soeben erfunden haben, vielleicht jemandem ähnelt, der Ihnen im Laufe des Lebens begegnet ist und auf den diese beiden Begriffe „dominant“ und „arrogant“ aus Ihrer Sicht zutreffen. Oder dass diese erdachte Person sozusagen eine Mischung aus mehreren realen Personen ist, auf die beide Zuschreibungen (zumindest aus Ihrer Sicht) zutreffen.
Willkommen auf Ihrer inneren Landkarte. Ihre innere Landkarte bzw. Ihr Modell der Welt ist eine ziemlich umfassende sagen wir mal Sammlung aus Erinnerungen, Prägungen, Bewertungen, etc. Das Gehirn speichert nämlich Erfahrungen ab, für den Fall, dass diese später noch einmal gebraucht werden. Das ist äußerst praktisch. Denn damit sparen wir eine Menge Zeit und Energie, wenn es darum geht, beispielsweise gefährliche Situationen zu erkennen. Ohne eine innere Landkarte würden Sie bei dem Geruch von Rauch nicht an eine Brandentwicklung denken. Sie würden denken: Was für ein merkwürdiger Geruch… Innere Landkarten sind also überlebensnotwendig, das hat die Evolution so eingerichtet.
Aber es geht nicht nur um das Überleben gefährlicher Situationen. Sämtliche signifikanten Erlebnisse werden abgespeichert. Freud und Leid, Menschen und Situationen, Eindrücke und Bewertungen, Erfahrungen, Strategien im Umgang mit bestimmten Situationen, sowie deren Erfolge bzw. Misserfolge, etc.
Der Effekt: Neue Sinneswahrnehmungen oder Situationen werden umgehend mit bekannten Mustern abgeglichen. Menschen werden kategorisiert, Situationen werden bewertet, Wahrscheinlichkeiten für Erfolg oder Misserfolg werden abgeleitet, etc. All das passiert innerhalb von Millisekunden im limbischen System, also dem unbewussten Teil unseres Gehirns, das der bewussten Wahrnehmung vorgeschaltet ist. Und weil all das im Unbewussten geschieht, fällt es uns schlichtweg nicht einmal auf.
Die innere Landkarte hat nun also durchaus eine sinnvolle, evolutionär begründete Funktion. Aber sie birgt auch ihre Tücken.
Die erste Grundannahme bzw. -aussage bei der Arbeit mit inneren Landkarten oder dem Modell der Welt lautet: Die Landkarte ist nicht das Gebiet. Gemeint ist: Die innere Landkarte ist ein Abbild der Welt, sie ist nicht die Welt selbst. So wie eine Straßenkarte von Rom eben nicht die Stadt selbst ist. Oder noch klarer formuliert: Das was ich sehe, ist nicht die Welt. Es ist die Welt, so wie ich sie wahrnehme. Mehr nicht. Auch ist eine weitere Grundannahme. Die Landkarte zeigt nicht das gesamte Gebiet. Stellen Sie sich eine Karte Ihrer Heimatstadt vor, die alle, wirklich ALLE kleinsten Details beinhaltet. Das ist schlichtweg unmöglich. Also wird auch hier generalisiert, zusammengefasst, getilgt, selektiert, etc. Die Landkarte zeigt nur einen Ausschnitt des Gebietes, aus einem bestimmten Blickwinkel, mit einem bestimmten Fokus.
Was ist nun also Realität oder Wirklichkeit?
Bevor Sie denken, ich könnte unter Realitätsverlust leiden, möchte ich eines klarstellen. Es geht hier nicht um die Frage, ob der Tisch dort hinten in der Ecke wirklich real ist oder nicht. Darum geht es hier nicht. Es gibt so etwas wie eine objektive Realität, die soll von diesem Modell nicht infrage gestellt werden. Wobei hier korrekterweise angemerkt werden sollte, dass die objektive Realität durchaus nicht so objektiv real ist, wie wir oft annehmen. Wie erscheinen Ihnen die parallel verlegten Fliesen auf dem Boden des Schwimmbeckens, in dem Sie stehen? Richtig. Sie erscheinen gebogen. Nun haben wir alle bereits das Phänomen der Lichtbrechung in der Schule kennen gelernt. Aber dennoch muss ich anerkennen, dass die Realität auch in diesem Fall nicht das ist, was ich sehe. Weitere, etwas komplexere Phänomene sind die Entdeckung der Relativität der Zeit, die so genannte Unschärfe-Relation aus der Quantenphysik, die es unmöglich macht, mit Gewissheit zu sagen, ob subatomare Elemente nun Teilchen (sprich Materie) oder Wellen (sprich Energie sind). Also streng wissenschaftlich gesehen, ist die Frage, was Realität ist, ebenso wenig exakt zu beantworten. Und: Was wird die Wissenschaft wohl noch so alles herausfinden, was vielleicht in Zukunft den Begriff der objektiven Realität noch weiter zum Bröckeln bringen wird?
Aber bleiben wir bei unserem unbewussten Modell der Welt.
Erinnern Sie sich an die dominante und arrogante Person, die Sie vor Ihrem inneren Auge gesehen haben? Dies hier war nur ein Gedankenspiel, bei dem Sie sich einen Menschen konstruiert haben, auf den diese Attribute zutreffen. Im Alltag kann es Ihnen aber passieren, dass Ihnen ein Mensch begegnet, auf den Ihre konstruierte oder erinnerte Beschreibung ziemlich deckend zutrifft. Dann dreht sich das Phänomen um. Sie werden automatisch (weil unbewusst abgerufen) die Attribute dominant und arrogant diesem Menschen zuschreiben. Auch wenn dieser vielleicht ein sehr hilfsbereiter, herzensguter Mensch ist.
Eine Falle. So ist das aber mit unserem limbischen System. So ist das mit den inneren Landkarten.
In einem Gespräch mit einer vielleicht fremden Person nehmen Sie diese Person mit allen Sinneskanälen wahr. Sie werden alle diese Sinneseindrücke mit bereits Erlebtem abgleichen und damit automatisch einordnen und bewerten, und zwar bevor es Ihnen bewusst wird. Das erledigt Ihr Unterbewusstsein für Sie. Ihre innere Landkarte lässt Sie diese Situation auf eine ganz bestimmte, höchst individuelle Art und Weise erleben. Das bedeutet, dass ein und derselbe Satz aus dem Munde dieser Person bei Ihnen eine ganz andere emotionale Reaktion auslösen kann als bei jemand Anderem.
Wir könnten hier noch hunderte weitere Beispiele durcharbeiten, aber ich denke, dass klar geworden ist, worum es geht.
Was ist nun der praktische Nutzen von diesem Modell?
Erinnern wir uns kurz an die erste Grundaussage: Die Landkarte ist nicht das Gebiet, also das Abbild der Wirklichkeit ist nicht die Wirklichkeit selbst.
Diese Erkenntnis bringt unweigerlich die Schlussfolgerung mit sich, dass Missverständnisse zu jeder Kommunikation dazugehören. Sie sind unausweichlich. Bleibt die Frage, wie ich ihnen begegne…
Um mit anderen gut kommunizieren zu können, muss ich bereit sein, das Modell der Welt des Anderen zu erkunden. Ich muss also ein ehrliches Interesse daran haben, die innere Landkarte des Anderen zu erforschen, also mehr darüber zu erfahren.
Wie das geht? Hören Sie genau zu. Spüren Sie in sich hinein, wie sich die Kommunikation anfühlt. Welche Emotionen nehmen Sie bei dem Anderen vielleicht wahr? Fragen Sie nach. Sorgen Sie dafür, dass Sie mehr über die innere Landkarte des Anderen lernen. Und wenn das nicht gelingt, dann akzeptieren Sie einfach, dass es sein kann, dass der Andere eine 6 auf dem Boden sieht, während Sie eine 9 sehen. Und vielleicht haben Sie beide Recht…