Wem ich die Schuld gebe, gebe ich die Macht
Heute möchte ich mich mit folgendem Spruch beschäftigen: „Wem ich die Schuld gebe, gebe ich die Macht.“
Wem ich die Schuld gebe, gebe ich die Macht? Als ich diesen Satz zum ersten Mal gehört habe, von einem Coaching-Kollegen, war ich spontan begeistert. Schuld und Macht sind schwergewichtige Worte, und meiner Meinung nach lohnt es, sich mit ihnen mal genauer zu beschäftigen.
Was bedeutet Schuld? Schuld ist einerseits kausal zu betrachten. Wenn jemand etwas tut, was eine Auswirkung hat, dann ist er schuld an der Auswirkung, an der Konsequenz seines Handelns. Egal, ob es eine positive oder eine negative Auswirkung hat. Lediglich im Sprachgebrauch ist es zwar bei einer positiven Auswirkung unüblich, von Schuld zu sprechen, aber die Schuld an der Auswirkung bleibt bestehen. Nun bedeutet Schuld aber noch mehr. Schuld ist ein Ungleichgewicht. Wenn ich schuld bin, dann trage ich Schuld. Und Schuld tragen bedeutet, dass ich jemandem gegenüber etwas schuldig bin, oder anders formuliert, dass ich diesem jemand etwas schulde. Beispielsweise bei einer negativen Auswirkung meines Handelns könnte ich diesem Jemand die Wiederherstellung des Zustandes davor schulden. So in etwa wird es beispielsweise auch in der Rechtsprechung in Schadenersatzangelegenheiten gehandhabt. Aber mir geht es hier nicht um eine juristische Betrachtung.
Schuld bedeutet, dass ein Ungleichgewicht auf mir lastet. Ich habe jemandem etwas genommen und war bisher nicht in der Lage, es ihm wieder zurück zu geben. Wir bewegen uns hier gerade auf einer moralisch-ethischen oder vielleicht etwas philosophischen Ebene, aber wer meinen Podcast kennt, der weiß, dass ich gerne tiefer in die Begriffsdefinitionen eintauche und ihnen auch immer eine persönliche Note verleihe.
Schuld impliziert aber auch, dass es einen Schuldigen geben muss. Der heutige Spruch lässt bewusst offen, um welche Art Ereignis oder Umstand es sich handeln kann. Es heißt nur ganz allgemein: „Wem ich die Schuld gebe…“ Nun wird sich vielleicht derjenige, der diesen Spruch hört, sofort an bestimmte Ereignisse oder Umstände aus dem eigenen Leben erinnern, bei denen sich in der einen oder anderen Weise eine Schuldfrage stellt. Geht es Ihnen genauso? Fallen Ihnen spontan auch Dinge ein, die beispielsweise unangenehm sind, und für die Sie vielleicht Anderen die Schuld geben? Mir geht es so. Mir fallen da spontan Dinge ein. Das ist nur menschlich und manchmal auch ganz sachlich betrachtet korrekt. Wenn jemand Ihnen die Vorfahrt nimmt, und Ihnen ins Auto fährt, obwohl Sie sich nachweislich korrekt verhalten haben, ist der Andere wohl schuld.
Aber im Coaching geht es ja nicht um solche einfachen Dinge. Hier geht es um Lebensthemen, um bestimmte Lebensumstände, um Persönlichkeitsentwicklung, Persönlichkeitsanteile, prägende Erlebnisse, etc. Wer ist denn an ihnen schuld? Lässt sich das so einfach klären?
Nun, um die Frage, wie die Schuldfrage geklärt werden kann, geht es heute nicht. Vielmehr möchte ich mich mit dem zweiten Teil des Spruches beschäftigen. Hier geht es ja um Macht.
Wem ich die Schuld gebe, gebe ich die Macht.
Was bedeutet nun Macht? Ich zitiere mal eine offizielle Definition aus Wikipedia: Macht bezeichnet die Fähigkeit einer Person oder Gruppe, auf das Denken und Verhalten einzelner Personen, sozialer Gruppen oder Bevölkerungsteile so einzuwirken, dass diese sich ihren Ansichten oder Wünschen unterordnen und entsprechend verhalten.
Vereinfacht ausgedrückt: Wenn ich Macht über Sie habe, kann ich Ihr Denken und Verhalten bestimmen. Diese Kurzversion ist etwas griffiger, mit ihr möchte ich arbeiten.
Sie denken, dass niemand über Sie Macht hatte oder hat? Weit gefehlt. Der Staat hat Macht über Sie. Strukturelle Macht. Ihre Eltern haben Macht über Sie. Denn ob Sie es wollen oder nicht, wir alle werden von unseren Eltern geprägt. Diese Prägung ist weder von den Eltern bewusst vorgenommen worden, noch haben wir uns bewusst prägen lassen. Die frühkindlichen Prägungen bereits, die im späteren Leben zu Lebensthemen oder Glaubenssätzen werden, sind im Unterbewusstsein verankert. Und damit haben unsere Eltern Macht über uns. Wir alle laufen mit Glaubenssätzen herum. Ich bin… Ich kann… ich kann nicht… Geld stinkt. Ein Indianer kennt keinen Schmerz, Eigenlob stinkt. All das sind Glaubenssätze, auch wenn sich über die Sinnhaftigkeit solcher Aussagen vortrefflich debattieren lässt.
Wer hat außer meinen Eltern noch Macht über mich? Nun, meine Kinder haben Macht über mich. Wenn mein Kleiner mit einem Jahr nachts schreiend aufwacht und damit meinen Nachtschlaf unterbricht, dann hat er Macht über mich. Die Natur hat mich mit väterlichen Instinkten und einer elterlichen Empathie ausgestattet, die dazu führt, dass mich das nächtliche Weinen ja nicht kalt lässt. Und damit gönne ich ihm ja auch gerne diese Macht.
Auch Verwandte, Kollegen und Freunde können Macht über uns haben. Wenn jemand etwas zu mir sagt, das mich noch lange beschäftigt, dann ist dieser Andere dafür verantwortlich, dass ich mir Gedanken mache. Damit hat er Macht über mich ausgeübt, weil er mein Denken oder Handeln beeinflusst hat. Macht ist also nicht immer nur strukturell zu begreifen im Sinne von hierarchisch verliehener Macht, sondern auch zwischenmenschlich auf einer kognitiven oder emotionalen Seite.
Wer mich zum Lachen bringt, hat genau so Macht über mich wie derjenige, der mich zum Weinen bringt.
Viel interessanter wird es aber bei der Betrachtung von Lebensumständen, die mir unangenehm sind, oder die mich blockieren. Hier sind ja schnell Andere Schuld.
Ich habe beispielsweise aufgrund der Corona-Maßnahmen meinen alten Job aufgegeben und mich beruflich neu orientiert. Schuld ist die Regierung. Ohne Frage. Denn sie hat diese Gesetze und Verordnungen erlassen. Aber möchte ich, dass diese Regierung die Macht über meine Lebensplanung, die Gestaltung meines Lebens oder die Entwicklung meiner Persönlichkeit bekommt? Eigentlich nicht.
Jemand wird vielleicht sagen: Ich laufe mit dem Glaubenssatz herum, dass ich es immer allen recht machen muss (In der Transaktionsanalyse wird so etwas auch als ein innerer Antreiber bezeichnet). Schuld daran sind meine Eltern, die mich so erzogen bzw. durch Vorlegen von Aktions- und Reaktionsmustern geprägt haben. Nun, wenn mich dieser innere Antreiber in meinem jetzigen, heutigen Leben immer wieder blockiert oder belastet, also negative Auswirkungen auf mein Wohlbefinden hat, wie sieht es dann mit der Macht aus, die meine Eltern über mich hatten bzw. in der Nachwirkung ja immer noch haben? Wie bewerte ich diese Macht?
Sie sehen, hier wird es interessant. Hier fange ich schon an, die Begriffe Schuld und Macht gemeinsam zu betrachten.
Wenn ich jemandem die Schuld gebe, verleihe ich ihm Macht. Solange eine Einwirkung einer Person auf mein Leben eine emotionale Auswirkung auf mich hat, hat diese Person, vielleicht auch rückwirkend oder gar posthum, Macht über mich.
Es gibt also einen interessanten Zusammenhang zwischen Schuld und Macht.
Wie komme ich da also raus? Wie kann ich jemandem die Macht über mich wieder entziehen, wenn er doch schuld ist?
Nun, meiner Meinung nach gibt es drei Wege.
Der erste ist der Weg der Vergebung. Wahre Vergebung ist nicht leicht, wenn es beispielsweise um permanente schwerwiegende seelische Verletzungen oder Kränkungen im Kindesalter oder noch schlimmere Dinge geht. Aber: Wem ich vergebe, dem entziehe ich die Schuld. Und damit die Macht über mein weiteres Leben.
Der zweite Weg ist die Anerkennung der Eigenverantwortung. Vielleicht ist ja gar kein Anderer schuld, sondern ich selbst. Vielleicht hat mein eigenes Tun zu einer bestimmten Entwicklung oder einem bestimmten Ereignis geführt. Vielleicht bin ich vollumfänglich selbst verantwortlich? Demnach bin ich selbst schuld, behalte dafür aber automatisch die Macht – in dieser Angelegenheit.
Der dritte Weg ist der, es bei einer Schuldzuweisung zu belassen, aber bewusst die Macht davon zu entkoppeln. Wenn ich beispielsweise mit einem Glaubenssatz behaftet bin wie „ich kann das eh nicht…“ - was auch immer das sein kann – dann kann ich durch eine intensivere Beschäftigung damit, beispielsweise im Rahmen eines Coachings, die Schuld dafür vielleicht bei meinen Eltern identifizieren. Der Begriff Schuld ist hier ganz wertfrei als Ursache oder Herkunft gemeint. Ich kann aber ebenso lernen, dass Glaubenssätze veränderbar sind, wenngleich dies je nach Schweregrad und emotionaler Signifikanz mitunter sehr schwer und anstrengend sein kann. Aber: Glaubenssätze sind veränderbar. Und damit entziehe ich dem Schuldigen (in diesem Fall meinen Eltern) die Macht über mich. Denn ich entscheide, mich persönlich zu verändern. Ich entscheide, an diesem Glaubenssatz zu arbeiten und mich von ihm zu lösen. Damit hole ich mir die Macht über mein Leben in diesem Aspekt wieder zurück.
Ich behaupte felsenfest: Ihnen geht es wie mir und allen anderen auch: Wir haben Glaubenssätze, die unser Denken und Verhalten prägen, einige davon in manchmal nicht förderlicher Art und Weise. Wir haben Verletzungen erlebt, traumatische Ereignisse oder einfach nur Erlebnisse, die uns emotional beeinflussen. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber wir können unseren Blick darauf verändern, also unsere Bewertung des Erlebten. Dies ist der Kerngedanke im Coaching und auch im therapeutischen Kontext.
Wem ich die Schuld gebe, gebe ich die Macht.
Holen Sie sich die Macht über Ihr weiteres Leben zurück! Geschehenes ist geschehen. Prägung ist nur Prägung. Prägung ist zwar ins Unterbewusstsein gebrannt, aber nicht in Stein gemeißelt. Sie haben es selbst in der Hand.